Treue Blätter
Als ich ihn das erste Mal sah, reichte er mir gerade bis zum Hosenbund. Ich war schon eine Stunde unterwegs gewesen, da stand er plötzlich vor mir. Klein, knorrig, nicht von schönem Wuchs, aber in einem glänzenden dunklen Grün. Seine Nadeln waren breit wie mein Daumen, sodass ich in den ausladenden glänzenden Nadeln mein Spiegelbild erkannte. Ich beschloss zu warten, die nächsten Jahre, bis er mich eingeholt, meine Größe erreicht hatte. Dann wollte ich ihn holen, in meine Stube stellen und ihm ein Weihnachtsfest bereiten, wie es kein anderer Baum erlebt hatte. Es fiel mir schwer, mich von ihm zu trennen. Das Gefühl ließ mich nicht los, irgendetwas Bestimmtes noch tun zu müssen, was mir nur nicht in den Sinn kommen wollte. So stand ich eine Weile bis mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, von dem ich sofort wusste, dass er dieses Bestimmte war, wonach ich gesucht hatte.
Ich legte meinen Zeigefinger auf eine freie Stelle des kleinen Stammes, schloss die Augen und wartete auf das Ereignis des letzten Jahres, das mir zuerst in den Sinn kam. Großvaters Beerdigung, sie lag keine vier Wochen zurück. Viele Jahre hatte er mein Leben begleitet, um plötzlich von heut auf morgen zu verschwinden. Und ich wusste nicht, wohin. Ich berührte noch immer den Stamm und dachte an Geschehnisse zurück, die ich mit Großvater erlebt hatte. Nach einer Weile öffnete ich die Augen, der kleine Baum stand unverwandt vor mir. Wie selbstverständlich nahm ich mein Taschenmesser und ritzte die Stelle ein, die ich berührt hatte als mir die Gedanken an Großvaters Beerdigung gekommen waren – langsam quoll eine dicke Träne aus Harz heraus, die Wunde zu schließen. Dann verabschiedetet ich mich und ging nach Hause.
Ein langes Jahr verging bis ich wieder vor ihm stand. Er war ein Stück gewachsen. Ich hatte die Fläche um ihn herum im letzten Jahr freigemacht, sodass sein Wuchs jetzt breit und ausladend wurde. Wieder legte ich meinen Zeigefinger auf eine freie Stelle. Wieder schloss ich meine Augen. Wieder wartete ich auf das Erlebnis des letzten Jahres, das mir zuerst in den Sinn kommen wollte. Es war unsere Osterreise nach Italien, die kleinen Bergdörfer mit den engen Berggassen, lichtgeschmückt, als sich am Passionstag die pilgernde Menge den Berg hochschob. Nachdem das Erlebte vor meinen Augen vorbeigezogen war, öffnete ich die Lider. Wieder griff ich nach meinem Messer. Wieder ritzte ich die berührte Stelle ein.
So ging es mehrere Jahre lang, und erst im fünften Jahr bemerkte ich, dass sich an jeder der eingeritzten Stelle ein neuer Trieb gebildet hatte und anfing einen ausladenden Zweig zu bilden. Das Harz, das die Verletzung damals geschlossen hatte, war der Nährboden für die neuen Triebe geworden. Und als ich die fünf neuen Zweige betrachtete, fiel mir auf, dass sie eine andere Farbe hatten. Ein zartes Grün, zerbrechlich wirkend wie dünnes chinesisches Porzellan, unter dem ein goldener Grundton glänzte.
Es vergingen sieben weitere Jahre bis er meine Größe erreicht hatte. Zwölf neue Äste hatten sich gebildet, alle in einem feinen golduntermalten Grün, das sie deutlich von den anderen abhob. Ich trat einige Schritte zurück und erkannte, dass die neuen Äste die Form eines Sternes bildeten.
Der Weihnachtsstern. Mein Weihnachtsstern! Nun war es Zeit, ihn für dieses Weihnachten nach Hause zu holen. Mein Leben nach Hause zu holen, mein Leben der letzten zwölf Jahre, das in seinen Ästen steckte. Ich griff nach der Säge, doch merkte ich gleich, dass sich meine Muskeln weigerten, das gezackte Gebilde in Bewegung zu versetzen. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu fällen. Mein Leben zu fällen.
Etwas ratlos lief ich nach Hause. Auf dem Rückweg durch den verschneiten Wald kam mir in den Sinn, was ich zu tun hatte. In der Stube standen die Weihnachtskisten gefüllt mit dem Weihnachtsschmuck und den Geschenken. Ich lud alles auf einen Schlitten und fuhr zu ihm zurück. In der aufkommenden Abenddämmerung begann ich, seine Äste zu schmücken. Nur die zwölf neuen goldgrünen ließ ich frei.
Als ich fertig war, zündete ich die Kerzen an. Ihr warmes Licht stieg zum Himmel auf und mir war als brach er sich an den Wolken, um wieder auf mich hinabzufallen. Die brennenden Kerzen vermischten sich mit den hellen Sternen des Nachthimmels. Nacheinander betrachtete ich die zwölf Äste und mein Leben der letzten Jahre entstand vor meinem geistigen Auge. Nur anders als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Mein ganzes Leben war in das weihnachtliche Licht getaucht. Anstatt Großvaters Beerdigung sah ich ihn an unserem Küchentisch als ich meinen achten Geburtstag feierte. Der Passionsweg hatte sich in den großen zurückgerollten Felsen verwandelt, der das nun leere Grab verschlossen hatte.
Noch lange stand ich in der kalten Abenddämmerung und betrachtete mein zurückliegendes Leben, das sich in weihnachtlichem Schimmer der zwölf goldgrünen Zweige widerspiegelte.